Elektrochemische Migration
„Der Prozess der elektrochemischen Migration ist die Bildung eines elektrisch leitfähigen Dendriten, der Leiter überbrücken kann.“ So fängt der neu gestaltete Annex A (informative) der IEC 60664-1 Niederspannungsrichtlinie an. Er berücksichtigt damit ein sich verstärkendes Bewusstsein für dieses Ausfall-Phänomen.
Hersteller von Einrichtungen für Solarfelder oder Windkraftanlagen kennen die Folgen einer elektrochemischen Migration bereits weitaus länger als die Automobilindustrie und deren Zulieferer. Denn diese beiden Branchen arbeiten bereits seit zwei Jahrzehnten in einem Umfeld, das elektrochemische Migration begünstigen kann: Wechselnde klimatische Einflüsse, große Temperaturschwankungen, Einsatz im freien Feld.
In einem trockenen, sauberen Umfeld kann es normalerweise nicht zu einer elektrochemischen Migration kommen – es fehlen dazu einfach die beweglichen Ladungsträger, die Ionen. Ganz anders sieht das aus, wenn in einem Gehäuse oder einem Bauteil Feuchtigkeit auftritt. Diese muss nicht zwingend gleich Kondensation oder gar Spritzwasser sein. Es reicht eine hohe Luftfeuchtigkeit, denn manche Werkstoffe können sehr viel Wasser aufnehmen (z.B. PA).
Faktoren
Neben dieser wichtigsten Bedingung für elektrochemische Migration, das Vorhandensein eines Trägers für Ionen, sind folgende weitere Faktoren begünstigend:
- Höhe der Spannungsdifferenz
- Leitfähigkeit des Substratmaterials
- Der Verschmutzungsgrad (Umwelteinflüsse)
- Art des Isolationsmaterials (Anfälligkeit für elektrochemischen Abbau)
- Art der Leitermaterialien (z.B. Wiskerbildung)
Gefahr minimieren
Deswegen empfiehlt der noch nicht als Normbestandteil veröffentlichte Anhang mehrere Rahmenbedingungen, die man beachten sollte, um die Gefahr eines Geräte-Ausfalls durch die elektrochemische Migration zu minimieren:
- Aufbringen von Beschichtungen auf Platinen (z.B. Schutzlacke)
- Verwendung von Metallwerkstoffen, die resistenter gegen elektrochemische Migration sind
- Verwendung von Isolationswerkstoffen mit hohem Isolationswiderstand (bei Widerständen unter 10e8 Ohm kann elektrochemische Migration auch ohne den Einfluß von Feuchtigkeit entstehen)
- Gehäusekonstruktionen, die eine Kondensation verhindern (hohe Schutzklasse IP-Wert) und Ort der Installation
- Wo Kondensation nicht durch andere Maßnahmen zu verhindern ist: Antikondensationsheizungen oder Eigenerwärmung (Stromwärme)
- Wie bei allen anderen Oberflächenphänomenen wie z.B. die Kriechwegbildung auch: größere Abstände wählen wie in der Norm festgelegt
- Vermeidung von Verunreinigungen auf Oberflächen und in Produkten (z.B. Vergußharze, Leiterplatten), die elektrochemische Migration begünstigen
Elektrochemische Migration als Fehlerursache
Die elektrochemische Migration tritt als Fehlerursache vor allem in Gleichstrom-Anwendungen auf: Das konstante elektrische Feld begünstigt die Wanderung von Metall-Ionen von einem Leiter zum anderen. Es bilden sich nadel- oder baumartige Metallstrukturen, die an der Oberfläche eines Isolators, aber auch in dessen Inneren (z.B. Vergussmassen) zur Verkürzung der Isolationsstrecke führen. Sie begünstigen zudem die Bildung von Kriechstrecken, was im schlimmsten Fall zu einem Kurzschluss führen kann.
Besonders problematisch ist auch, dass man dieses Phänomen nahezu unmöglich bei einer fertigungsinternen Qualitätsprüfung erkennen kann. Die Folge ist, dass erst (sporadische) Feldausfälle eine Schwäche der Konstruktion offenlegen.
Elektrochemische Migration – Ergänzung der IEC 60664